Mediengeschichte des 19. und
frühen 20. Jahrhunderts (20)
Das
Jahr 1918
Die Antizipation der politischen und sozialen Umbrüche durch die expressionistische Literatur vor 1914Ein berühmt gewordenes Beispiel:
Das Gedicht "Weltende" von Jakob van Hoddis, 1911:
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei,
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut.Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
1919: Kurt Pinthus’ Anthologie "Menschheitsdämmerung"
ÖKONOMIE: Niedergang der industriellen Produktion nach dem 1. Weltkrieg
Index der Industrieproduktion: von 100 (1913) auf 38 (1919)
Anteil an der Weltindustrieproduktion 1913: 16%; 1920: 9%
Jürgen Kuczynski in „Geschichte des Alltags des deutschen Volkes", Bd. 5, 29 f:
"Das Ausmaß des Verfalls der Wirtschaft als Ganzes wird deutlich, wenn man sich sagt: Man kann die deutschen Arbeiter in diesen Jahren nicht mehr als moderne industrielle Arbeiter hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit im Produktionsprozeß bezeichnen. Sie waren Wesen eigener Art, die weder in den Nahrungs- noch in den Lohnverhältnissen, noch in mannigfacher anderer Beziehung viel mit den englischen oder amerikanischen gemeinsam hatten. Das kommt im Extrem darin zum Ausdruck, daß in einer Reihe von Fällen die Unternehmer von der Maschinen- zur Handarbeit zurückgingen. Die deutsche Wirtschaft war hier ein Jahrhundert zurückgeworfen."
Ursachen:
- Gebietsverluste (vor allem Elsaß und Ruhrgebiet, Teile Schlesiens)
- ungenügende und übermäßig verteuerte Energieversorgung
- Anfälligkeit und mangelnde Reparaturfähigkeit der Maschinerie
- Mangel an Investitionen
- Mangel an internationaler Kommunikation in Bezug auf den technischen Standard
Ausländisches Kapital: 1929 gibt es keinen deutschen Industriekonzern mehr, der nicht von ausländischen (vor allem amerikanischen) Krediten abhängig wäre
Mediengeschichte: Die Ufa und die Hollywood-Konzerne 1925/26
Daten zur Geschichte der Ufa:
- 1917 Kriegsgründung Universum Film AG
- ab 1921 führender Konzern
- die Filme von Fritz Lang und F.W. Murnau
- die Krise von 1925/26
- "Metropolis"
- Parufamet-Vertrag
- 1927: Hugenberg
SOZIALE LAGE, POLITISCHE DISPOSITIONEN UND ALLTAGSKULTUR
Zur Bewußtseinslage in der breiten Bevölkerung:
- Angst vor weiterer Verarmung
- Neigung, an den alten Werten festzuhalten
- Ablehnung politischer Veränderungen, Mißtrauen vor der Demokratie
- „konservative Revolution" und „revolutionärer Nationalismus"
- die soziokulturelle Alltagswelt bleibt unverändert
- Fluchtwege: teils vorindustrielle Bewußtseinsformen, teils Massenmedien"Die faszinierende zweite Wirklichkeit des Kinos und die darin verdoppelte Konsumkultur waren bedeutende Flucht- und Entwicklungsräume des kleinbürgerlichen Ich. Die Öffentlichkeit der Zerstreuungs- und Vergnügungskultur verdeckte nahezu vollständig den Grad der Abhängigkeit, Unsicherheit und Dürftigkeit einer durchschnittlichen Angestelltenexistenz. Der Filmstar erschien als verkörperte Sehnsucht auf der Bildfläche, ein Idol, das Sehnsüchte band und weckte."
(Gert Selle, Kultur der Sinne und ästhetische Erziehung, Köln 1981)
Hugo von Hofmannsthal über das Kino
"Ersatz für die Träume", in „Das Tage-Buch", 1921:
"...auf dem Film fliegt indessen in zerrissenen Fetzen eine ganze Literatur vorbei, nein, ein ganzes Wirrsal von Literaturen, der Gestaltenrest von Tausenden von Dramen, Romanen, Kriminalgeschichten; die historischen Anekdoten, die Halluzinationen der Geisterseher, die Berichte der Abenteurer; aber zugleich schöne Wesen und durchsichtige Gebärden, Mienen und Blicke, aus denen die ganze Seele hervorbricht. Sie leben und leiden, ringen und vergehen vor den Augen des Träumenden; und der Träumende weiß, daß er wach ist; er braucht nichts von sich draußen zu lassen; mit allem, was in ihm ist, bis in die geheimste Falte, starrt er auf dieses flimmernde Lebensrad, das sich ewig dreht."
- eine Theorie der Kino-Faszination, nahezu zeitgleich mit der gesellschaftlichen Durchsetzung des neuen Mediums
- die Ableitung der Kino-Faszination aus dem sozialen Kontext
- die Verlust-Erfahrungen der Epoche - und die Traum-Qualität des Kinos als Kompensation
Kinoereignisse 1918-1920:
Zur Geschichte des Films in Deutschland nach dem 1. WeltkriegAbschaffung der Zensur am 12. November 1918
Dezember 1918: Uraufführung von Ernst Lubitschs "Carmen" in Berlin
1919: 470 Spielfilme - erste Tonfilmexperimente, noch nicht kommerziell
„Anders als die Andern" von Richard Oswald: gegen die Kriminalisierung der Homosexualität1920: 510 Spielfilme.
Reichslichtspielgesetz der Nationalversammlung:
Einrichtung amtlicher Prüfstellen
Einführung von Zensurkarten
DAS CABINET DES DR. CALIGARI (1920)
"Wie Caligari sein Medium, so haben die Kinematographenbesitzer der ersten 15 Jahre ihre laufenden Bilder auf Jahrmärkten in behelfsmäßigen Zeltbuden als Sensation vorgeführt; wie Caligari erschienen sie als Zauberer, da sie in der Lage waren, dem statischen fotografischen Medium Leben einzuhauchen. Daß dieser Vorgang, so leicht er sich durch Physik, Chemie und Optik erklären ließ, Assoziationen von Magie, unerlaubter schwarzer Kunst und gespenstischem Schöpfungsakt hervorrief, braucht nicht zu verwundern." (Anton Kaes)
Auf die undurchschaubare Wirklichkeit (Industrialisierung, Krieg, Niederlage, Revolution, Inflation, Modernisierung des Alltags) antwortet der Film durch Verrätselung - eine verstellte Welt:
- Derealisierung von Raum und Film-Wirklichkeit durch anti-realistische, „expressionistische" Dekors
- verzerrte Perspektiven, Auflösung des rechten Winkels, suggestive Schattenwirkungen
Die Werbekampagne, schon Wochen vor der Premiere: "Du mußt Caligari werden!" - der Film als urbanes Event, die Werbung als Seelenmassage und subtiler Terror
Siegfried Kracauer: From Caligari to Hitler, 1947
(deutsch: Von Caligari zu Hitler, Frankfurt/M. 1984)Seine Ausgangsthese:
"Die Filme einer Nation reflektieren ihre Mentalität unvermittelter als andere künstlerische Medien, und das aus zwei Gründen: Erstens sind Filme niemals das Produkt eines Individuums. (...) Zweitens richten sich Filme an die anonyme Menge und sprechen sie an. Von populären Filmen - oder genauer gesagt, von populären Motiven der Leinwand - ist daher anzunehmen, daß sie herrschende Massenbedürfnisse befriedigen.
Was die Filme reflektieren, sind weniger explizite Überzeugungen als psychologische Dispositionen - jene Tiefenschichten der Kollektivmentalität, die sich mehr oder weniger unterhalb der Bewußtseinsdimenaion erstrecken."