Glasfasern 88
Zeitansage
„Politische
Eingriffe, die über Symptombehandlung hinausgehen, werden bei der
Struktur der
Arbeit in globalisierten Wirtschaften beginnen müssen.“ Sehr wahr
- aber wie
soll man strukturell angemessen handeln, wenn man gerade verzweifelt in
seinem
Papierkorb wühlt?
Der
zitierte Satz stammt von Sir Ralf Dahrendorf, schon aus diesem Grund
leuchtet
er vollkommen ein - ganz abgesehen davon, daß er in der „Zeit“
steht und elegant
formuliert ist. So elegant, daß ich mit einer etwas
überhasteten Geste der
Begeisterung den Schreibstift, mit dem ich ihn ankreuzen wollte, von
der
Tischplatte gefegt und in die Tiefen meines Papierkorbs befördert
habe.
Urplötzlich öffnet sich der Abgrund, der zwischen dem
globalisierten Wirtschaften
und der Bleistiftstummel-Ökonomie auf meinem Schreibtisch klafft.
Anstatt
den übervollen Papierkorb auszuschütten und, auf dem Boden
kriechend, nach dem
verlorenen Utensil zu fahnden, entscheide ich mich dafür, mit
einer viel zu großen
Papierschere das winzige Erkenntnisjuwel auszuschneiden und mit Hilfe
von
Tesafilm an das mit ähnlichen Zeitungsfetzen bereits
übersäte Gehäuse meines
PC-Monitors zu heften. Dort dürfte es allerdings
bald dem Vergessen
anheimgegeben sein. Es gibt noch kein Link-Programm, das
imstande wäre, die
vielen analogen Texte, die am Rande meines Bildschirms
allmählich vergilben,
einfach per Mausklick in das digitale Ideengewimmel auf dem Computer zu
katapultieren.
So kommt es, daß, zumindest auf meinem Schreibtisch, der
Globalisierung immer
wieder die lästigsten Hemmnisse im Weg stehen. Kleinmut, hektische
Symptombehandlung und veraltete Technologie...
Von
dem Vorsatz besessen, solche Grübeleien meinem Notizbuch
anzuvertrauen, nehme
ich nun doch die Suche nach dem blindlings verschleuderten
Bleistiftstummel
auf. Während ich mich auf allen
vieren
durch mein Zimmer bewege, will es mir scheinen, als seien die Furchen,
die
meine Kniee im Teppichboden hinterlassen, den Ackerfurchen nicht
unähnlich, die
seit Jahrtausenden die Fellachen am Nil mit ihren vorsintflutlichen
Gerätschaften
dem mal überschwemmten, mal von Dürre gepeinigten Boden
eingravieren.
Was
aber, so sinniere ich weiter, berechtigt uns, die Werkzeuge der
Nilbauern als
„vorsintflutlich“ zu bezeichnen,
wenn (wie selbst die bisher
gemächliche, nun jedoch gleichfalls von den Wirbeln der
Beschleunigung
erfaßte „Zeit“ konstatiert) die
Internationalisierung der Wirtschaft „fast
überall“ das Wachstum fördert, mithin auch der Computer den
vorsintflutlichen Maschinen
zuzurechnen ist - da doch die wirkliche Sintflut, die dem
von allen Bedenken entlasteten Wachstum
unvermeidlich folgen wird, noch bevorsteht? Wie werden die Maschinen
aussehen,
die wir nach der vom PC ausgelösten Wachstums-Sintflut
bearbeiten werden? Ob
wohl der „Club of Rome“, gäbe es ihn noch, eine Antwort
wüßte?
Schließlich
gebe ich die Suche nach meinem ältlichen Schreibgerät auf,
entringe mich der
wachstumshemmenden Eschatologie und wende mich wieder meinem PC zu. Wer
könnte
schon die letzten Fragen beantworten, wenn sie nicht einmal Dahrendorf
beantworten
kann? Führt er uns nicht, über zwei stattliche „Zeit“-Seiten,
mit umwölkter
Stirn in ein neues „autoritäres Jahrhundert“, um uns am
Ende lächelnd zu
bescheiden, existentielle Angst sei „nicht angesagt“? Angesagt ist
- bis zur
nächsten Ansage - die Struktur der Arbeit in den
globalisierten Wirtschaften.
Über die Fellachen-Furchen in meinem Teppichboden wird schon
morgen der
Staubsauger hinweggehen, und über den Bleistiftstummel auch.