Glasfasern 85


Polizeilinguistik

 

Die Narben auf unseren Stimmbändern, schreibt Marcel Beyer in seinem Roman „Flughunde“, bilden „ein Verzeichnis einschneidender Erlebnisse, akustischer Aus­­brüche, aber auch des Schweigens.“ Mit dem Finger seien diese zarten Furchen nicht abzutasten. „Dort, in der Dunkelheit des Kehlkopfs: Das ist deine eigene Geschichte, die du nicht entziffern kannst.“

In einem großen Land, das mitten in Mitteleuropa liegt, denken neuerdings die mit der Überwachung von Asylbewerbern befaßten Behörden, allen voran der Innenminister, darüber ganz anders. Mit  aku­stischen Aufzeichnungsgeräten will man nun an jene Geschichten heran, die selbst ihre Eigentümer nicht entziffern können - oder mit denen sie nicht herausrücken wollen. Dazu dienen „emotionalisierende“ Gespräche, die nicht nur Verborgenes aufdecken, sondern über die heimischen Phoneme auch die Staatsangehörigkeit des Asylsuchenden ermitteln sollen. In die Dunkelheit des Kehlkopfes, soweit sie Ungesagtes, vielleicht auch Un­sag­ba­res verschließt, soll die Phonometrie hineinleuchten, um den Polizeilinguisten Ma­terial für eine „flächendeckende Sprach- und Textanalyse“ bereitzustellen: Stammt der eng­lisch­spre­chen­de Delinquent womöglich nicht, wie er be­hauptet, aus dem nördlichen, sondern aus dem südlichen Uganda? Ist dieser bosnische Serbe ein Bosnier, der unsägliches Leid erfahren - oder ein Serbe, der es anderen zugefügt hat? War die Gewalt, die eine kur­dische Frau erlitt, „politisch mo­tiviert“ oder den mehr oder weniger schicksalhaften, in „kultureller Tra­di­tion“ wurzeln­den familialen Verstrickungen geschuldet - bedauerlichen Umständen gewiß, für die jedoch nie und nimmer die Steuerzahler Mitteleuropas aufzukommen haben?

Inquisitionstechnik soll nun, um in diesen Fragen sozialhygienische Klarheit her­zustellen, auf wissenschaftlicher Basis die Neurologie des Rachenraums erschließen. Lügendetektoren, die feinste ethnolinguistische und ethnopsychische Devianzen messen, werden auf den Kehlkopf angesetzt, tasten die Tonbänder nach biographischen Narben auf den Stimmbändern ab. Was Erfahrung den lautbildenden Organen einkerbt, soll nun gemessen und von Sprachwissenschaftlern „ausgewertet“ werden: auch die Not, die ein Mensch im Laufe seines Lebens hinausschreit oder buchstäblich herunterschluckt, an der er würgt oder die ihm schlicht die Sprache verschlagen hat.

Eine Variante des Lauschangriffs, die, mit Marcel Beyer gedacht, auf „ein Areal jenseits aller kartographierten Gegenden des Menschen“ zielt. Das will viel heißen, denn der Mensch ist weitgehend zu Ende kartographiert - einmal abgesehen von der Frage nach der Seele, die sich einer von Polizeihirnen ausgebrüteten Vermessungsmathematik schon darum nicht stellt, weil sie das Problem der Psyche auf das binäre Ja/Nein-Schema reduziert. Entweder lügt ein Delinquent, oder er sagt die Wahrheit - da­mit erübrigt sich die Erforschung aller Ambivalenzen, zumal sie selbst von den feinsten Meßgeräten nicht gemessen, von den besten Tonbandgeräten nicht aufgezeichnet werden können.    

 

         Klaus Kreimeier

         1997