Glasfasern 80


Sitcoms am BE

 

Ein Jahr vor seinem Tod soll Bert Brecht dem damaligen Intendanten des DDR-Fernsehens den Vorschlag gemacht haben, ihm für die Aufzeichnung eines seiner Theaterstücke fünfzig Kameras zur Verfügung zu stellen. Jedes der Objektive sei auf ein präzis zu bestimmendes Segment der Bühnentotalität zu richten; kein noch so beiläufiger Ausdruck im Gesicht eines Darstellers, keine Armbewegung, kei­ne Fußstellung, kein Detail des Bühnenbildes oder der Requisiten solle der Unbe­stechlichkeit des Kameraauges entgehen. Zwei Stunden Theater, in fünfzig Facetten zerlegt und fünfzigfach reproduziert - das hätte hundert Stunden Material für eine Heerschar protokollwütiger Brechtianer ergeben, Beobachtungs- und Gedan­kenmas­­se für ein neues Organon, das der Meister womöglich schon im Kopf hatte, als er dem verdutzten Intendanten seine neue Variante einer Indienstnahme der modernen Medien zur Verbesserung der Weltlage vortrug. Vorschläge habe er ge­macht, ließ er auf seinen Grabstein setzen; dieser freilich wurde nicht angenommen.

Er könnte noch angenommen werden. So wie sich die Dialektik der Aufklärung von Adorno/Horkheimer unschwer ins Positive umstülpen und als eine Betriebs­anleitung für das Multimedia-Zeitalter lesen läßt, bildet sich in Brechts Vision ziem­lich genau der Bauplan für die Fabrikation unserer täglichen Soap-Serien auf ei­ner höheren Stufe der Rationalisierung ab. Für die Herstellung einer Folge von Ver­botene Liebe oder Gute Zeiten, schlechte Zeiten wird durchschnittlich noch ein vol­ler Arbeitstag benötigt. Würde man das gesamte schauspielerische Personal zum Beispiel der Lindenstraße eine Woche lang in wechselnden Kulissen und Kostümen be­liebige Sätze aus dem Alltag aufsagen und das Ganze von dreihundert Videokame­ras fotografieren lassen, so hätte man relativ mühelos das Material für ein paar Monate zu­sammen; man könnte die Darsteller erst einmal nach Hause schicken und sich mit Hil­fe der digitalen Schnittmaschinen der Sinnproduktion widmen. Sehr schnell wird man die Erfahrung machen, daß sich der Sinn einer Soap-Serie sozusagen aus sich selbst heraus generiert.

Brecht dachte analytisch; es ging ihm um die Destruktion des schönen Scheins. Seine Vorschläge zielten auf die Zerlöcherung und Unterminierung von Sinn­zusamenhängen, in denen sich stets nur „falsches Bewußtsein“ und mit ihm die Selbstversklavung des Menschen reproduziert. Sein Theater war ein Labor - und das Geschehen auf der Bühne eine soziologische Versuchsanordnung, die man in ihre Bestandteile zerlegen und nach unterschiedlichen Faktoren und Funktionen um­or­ganisieren kann. Wie sie einander Fallen bereiten/Voller Hoffnung/Wie sie Verabredungen treffen/Wie sie einander aufhängen/Wie sie sich lieben/Wie sie die Beute verteidigen/Wie sie essen/Das zeige ich.

Der Witz ist: die Daily Soaps zeigen all das auch. Brecht wäre heute einer ih­rer Fans. Mit seiner etwas sardonischen Art, sich ein Vergnügen zu machen, wür­de der Stückeschreiber an einem digitalen Schnittplatz sitzen und auseinandernehmen, was andere synthetisieren. Zwischen Analyse und Synthese liegt eine Weltanschauung, aber die Technik macht zwischen ihnen keinen Unterschied. BB wüßte mit ihr umzugehen. Und am Schiffbauerdamm gäbe es keine Krise; vielmehr würden wunderbare Sitcoms zu sehen sein, nach den Gesetzen des epischen Theaters präzise aufbereitet und von fünf­zig Überwachungskameras gefilmt.

    

         Klaus Kreimeier

         1997