Glasfasern 67
Zwischenbericht
Der Sommer hat erst
begonnen; wäre dem Kalender noch zu
trauen, gäbe es keinen Anlaß, schon einen Zwischenbericht zu
schreiben. Doch
die längsten Tage des Jahres waren nur kurz; früh wurde es
Abend, schwarze
Wolken lagerten über dem Land, und die Kinder, müde von der
zuvor bereits
erfolglosen Jagd nach dem Frühling, standen ausgebürgert und
wie zerrupfte
Vögel im Regen. Gewitter zerbarsten an der Rändern der Stadt.
Zum Ferienbeginn wurden,
südlich der Alpen, verschiedene
Urlaubszentren von Unwettern heimgesucht, die den Hoteliers die
Kalkulation
verdarben und einen Menschen, der sein Auto retten wollte, das Leben
kosteten.
Der Sommeranfang sah aus wie Herbst. Aber auch der Herbst hat seinen
guten Ruf
verloren, seitdem die Winter, der ihm folgen, so vage geworden sind.
Die
Jahreszeiten verlieren ihre Konturen. Ende Juni wurden in Schottland
und
Norditalien Schneefälle, östlich der Elbe
Äquatortemperaturen gemeldet.
Wimbledon war, erstmals in
seiner hundertzwanzigjährigen
Geschichte, eine halbe Woche lang „completely washed out“; die Spieler
lungerten untätig in der Players’ Lounge herum, und im Fernsehen
wiederholte
sich endlos die Vergangenheit: Björn Borg und Jim Connors und John
McEnroe und
das siebzehnjährige Wunderkind aus Leimen. Die
achtziger Jahre als längst verlorenes Paradies aus der
Konserve; die
elektronische Beschwörung des „Es war einmal“ als Live-Surrogat.
Erst der
zweite Montag brachte, mit der gebesserten Witterung, die
Wiedergewinnung der
Gegenwart.
Einige wenige warme Tage
gab es, sie wurden von hastig
arrangierten Techno-Festen in den Gartensiedlungen schnell
zerschmettert; der
Geruch von gegrilltem Fleisch verklebte die Nächte und
schleppte sich zählebig
in den nächsten, unbestimmbar grauen, abermals wolkenverhangenen
Tag.
Umweltkonferenzen finden
weiterhin statt; das Ausmaß ihres
Scheiterns wird an den Versäumnissen der jeweils vorangegangenen
gemessen. Die
Menschenmassen in den Einkaufspassagen: eine im Stellungskrieg
zermürbte
Infanterie, die wie in Trance einer militärischen Katastrophe
entgegensieht.
Mit dem Kommando „Go!“ - Mut, Risikofreude, Selbstvertrauen -
plant der
nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister, die ermattete
Menge von neuem in
Bewegung zu setzen.
Sieht man vom Wetter und
der allgemeinen Lethargie einmal ab,
bleibt die Gesamtlage besorgniserregend genug. Die Hoffnung auf
den Euro ist
mit der Gewißheit seiner Einführung geschwunden. An das
vereinbarte Datum
haben sich die Regierenden gefesselt, als komme es darauf an, nicht die
Wirtschaft in Europa zu stabilisieren, sondern dem geltenden
Kalender und der
Gültigkeit des Zeitplans einen Tempel zu errichten. Aber der
Kalender taugt
nicht mehr viel, er wird nicht nur vom Klimawandel unterminiert.
Auch seine mathematischen
Prämissen sind in Gefahr. Auf die
Jahrtausendwende senkt sich ein ungewisses, vom Delirium der
Algorithmen
durchzucktes Licht. Selbst seriöse Publikationen beschäftigen
sich nun
ernsthaft mit der Annahme, daß dem Binärcode unserer
Computer eine wahnwitzige,
aber überaus konsequente Eigenlogik implantiert sei, an der unsere
Manie, die
Zeit in Meßeinheiten wie Jahre, Tage und Stunden einzuteilen,
kläglich
zerschellen könnte. Was geschieht, wenn unsere Rechner die
Vereinbarung, daß
auf das Jahr 1999 das Jahr 2000 folgt, nicht akzeptieren?
Vielleicht aber brauchen
wir keine Zeitrechnung mehr - haben
doch einige Ökonomen, die derzeit den Herzschlag der Leere
erforschen, die
Vermutung geäußert, daß Amerika das Gesetz der
kapitalistischen
Konjunkturzyklen außer Kraft gesetzt habe. Von nun an werde
es, meinen sie,
immer so weitergehen.
Klaus
Kreimeier
1997