Glasfasern 55

Pinocchio


Qualifikationsspiel um die Fußballweltmeisterschaft Deutschland gegen Albanien in Granada. Albanien gibt es also noch, aber es findet in Südspanien statt, vor einigen tausend deutschen Urlaubern und einer Handvoll spanischer Fans, die auf guten Fußball hoffen. Albanien als Staat ist zusammengebrochen. Ein Teil seine Be­völkerung na­vigiert auf maroden Schiffen in der Adria. Im Land wütet ein Ban­den­krieg. Wer nicht flüchten konnte oder noch immer Gründe hat, an Albanien zu glau­ben, sitzt vor dem Fernseher und drückt seiner Nationalelf den Daumen.
 

Was hat eine Nationalelf mit dem Schicksal der Nation zu tun? Eine gan­ze Menge. Die elf albanischen Fußballer spielen in Deutschland und anderen euro­­päischen Ländern Fußball, aber sie haben sich zusammengetan, um gemeinsam Gruppensieger, vielleicht sogar Weltmeister zu werden. Der Tabellenstand spricht ge­gen sie, aber die elf Albaner spielen einen eleganten Fußball. Sie kombi­nie­ren besser als die Deutschen und sehen bis zur siebzigsten Minute wie die Sieger aus. Am Ende steht es 3:2 für Deutschland, weil Ulf Kirsten - man weiß nicht recht, wie - drei Tore ge­schossen und die Mannschaft so gespielt hat, wie es ihr Ber­ti Vogts beibrach­te: hol­prig, unkonzentriert, konzeptionslos, doch am Ende ir­gend­wie sieg­reich.
So oder zumindest so ähnlich wird unser Kanzler am Ende dieses Jahrhun­­derts Europa zusammengezimmert haben, während in Albanien, in Rußland oder beim gegenwärtigen Tabellenführer Ukraine noch immer Bandenkriege toben. 1998 wer­den die Deutschen wieder einmal irgendwie Fußballweltmeister geworden sein, und Euro­pa­mei­­ster Helmut Kohl wird, quasi als Meister aller Klassen, zum fünften Mal in den Wahlkampf gehen. Gleichzeitig wird das Fernsehen zu Spenden für die Hun­gern­den in Albanien, in der Ukraine und in Rußland auf­ru­fen. Die Zukunft ist schon ge­stern gewesen, und sie ist nicht viel einfallsreicher als die Gegenwart.

Der Witz ist: die Wirklichkeit und was das Fernsehen daraus macht, sind zwei verschiedene Dinge.  Die Wirk­lich­keit spielt sich auch im Fernsehen ab, aber im Off. Was im Off geschieht, soll eigentlich unsichtbar bleiben, aber es drängelt immer wieder ins Bildfeld hinein. Es mo­gelt sich ins Bild, weil es hofft, daß die Kamera hinblickt, aber es "nicht bemerkt". Weil es so ist, wissen wir nun seit dem Albanien-Spiel, daß es in Osnabrück ein paar cle­vere Kids geben muß.

Wie es dazu kam? Ganz einfach. Überall, wo ein Länderspiel Deutsch­land gegen den Rest der Welt stattfindet, baut die ARD ihr ARD-Fußball­stu­dio auf. Das Studio ist aus Plexiglas, darin sitzt der ARD-Re­por­ter Waldemar Hartmann und be­fragt Berti Vogts nach dem Spiel, warum die Deut­schen trotz Andi Möl­ler und ande­rer Unglücksfälle wieder einmal gewonnen ha­ben. Das ist eine ziemlich pein­liche An­gelegenheit, und niemand schaut mehr so rich­tig hin.
 

Diesmal aber schaute man hin, weil außer den schemenhaften Fans, die stets hinter der Plexiglaswand zu sehen sind, ein seltsames Pappschild zag­haft, aber un­verwandt, wie ein schwimmendes Phantombild in einem Traum sich immer wie­der neben den Kopf von Berti Vogts drängte, dar­auf in ungelenker Filzstiftschrift zu le­sen war, daß es in Osnabrück eine "Pizzeria Pinocchio" gibt
.

Wer hätte das gedacht? So kommt alles zusammen: der Untergang Alba­niens und seine beinahe gelungene Wiederauferstehung im Fußball; das Prinzip der ewi­gen Wiederkehr Deutschlands, wenn es um Meisterschaften geht - und der Triumph der Ränder über das Zentrum, der Sieg einer kleinen Pizzeria in Osnabrück über die Fernseh-Wirklichkeit!

Klaus Kreimeier

1997