Glasfasern
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Pinocchio
Qualifikationsspiel
um die Fußballweltmeisterschaft Deutschland gegen Albanien in
Granada. Albanien gibt es also noch, aber es findet in Südspanien
statt, vor einigen tausend deutschen Urlaubern und einer Handvoll
spanischer Fans, die auf guten Fußball hoffen. Albanien als Staat
ist zusammengebrochen. Ein Teil seine Bevölkerung
navigiert auf maroden Schiffen in der Adria. Im Land wütet
ein Bandenkrieg. Wer nicht flüchten konnte oder noch
immer Gründe hat, an Albanien zu glauben, sitzt vor dem
Fernseher und drückt seiner Nationalelf den Daumen.
Was
hat eine Nationalelf mit dem Schicksal der Nation zu tun? Eine
ganze Menge. Die elf albanischen Fußballer spielen in
Deutschland und anderen europäischen Ländern
Fußball, aber sie haben sich zusammengetan, um gemeinsam
Gruppensieger, vielleicht sogar Weltmeister zu werden. Der
Tabellenstand spricht gegen sie, aber die elf Albaner spielen
einen eleganten Fußball. Sie kombinieren besser als die
Deutschen und sehen bis zur siebzigsten Minute wie die Sieger aus. Am
Ende steht es 3:2 für Deutschland, weil Ulf Kirsten - man
weiß nicht recht, wie - drei Tore geschossen und die
Mannschaft so gespielt hat, wie es ihr Berti Vogts
beibrachte: holprig, unkonzentriert, konzeptionslos, doch am
Ende irgendwie siegreich.
So
oder zumindest so ähnlich wird unser Kanzler am Ende dieses
Jahrhunderts Europa zusammengezimmert haben, während in
Albanien, in Rußland oder beim gegenwärtigen
Tabellenführer Ukraine noch immer Bandenkriege toben. 1998
werden die Deutschen wieder einmal irgendwie
Fußballweltmeister geworden sein, und
Europameister Helmut Kohl wird, quasi als Meister
aller Klassen, zum fünften Mal in den Wahlkampf gehen.
Gleichzeitig wird das Fernsehen zu Spenden für die
Hungernden in Albanien, in der Ukraine und in Rußland
aufrufen. Die Zukunft ist schon gestern gewesen, und sie
ist nicht viel einfallsreicher als die Gegenwart.
Der
Witz ist: die Wirklichkeit und was das Fernsehen daraus macht, sind
zwei verschiedene Dinge. Die Wirklichkeit spielt sich
auch im Fernsehen ab, aber im Off. Was im Off geschieht, soll
eigentlich unsichtbar bleiben, aber es drängelt immer wieder ins
Bildfeld hinein. Es mogelt sich ins Bild, weil es hofft, daß
die Kamera hinblickt, aber es "nicht bemerkt". Weil es so ist, wissen
wir nun seit dem Albanien-Spiel, daß es in Osnabrück ein
paar clevere Kids geben muß.
Wie
es dazu kam? Ganz einfach. Überall, wo ein Länderspiel
Deutschland gegen den Rest der Welt stattfindet, baut die ARD ihr
ARD-Fußballstudio auf. Das Studio ist aus Plexiglas,
darin sitzt der ARD-Reporter Waldemar Hartmann und
befragt Berti Vogts nach dem Spiel, warum die Deutschen trotz
Andi Möller und anderer Unglücksfälle wieder
einmal gewonnen haben. Das ist eine ziemlich peinliche
Angelegenheit, und niemand schaut mehr so richtig hin.
Diesmal
aber schaute man hin, weil außer den schemenhaften Fans, die
stets hinter der Plexiglaswand zu sehen sind, ein seltsames Pappschild
zaghaft, aber unverwandt, wie ein schwimmendes Phantombild in
einem Traum sich immer wieder neben den Kopf von Berti Vogts
drängte, darauf in ungelenker Filzstiftschrift zu lesen
war, daß es in Osnabrück eine "Pizzeria Pinocchio" gibt
.
Wer
hätte das gedacht? So kommt alles zusammen: der Untergang
Albaniens und seine beinahe gelungene Wiederauferstehung im
Fußball; das Prinzip der ewigen Wiederkehr Deutschlands,
wenn es um Meisterschaften geht - und der Triumph der Ränder
über das Zentrum, der Sieg einer kleinen Pizzeria in
Osnabrück über die Fernseh-Wirklichkeit!
Klaus
Kreimeier
1997