Glasfasern 51

Informationsgesellschaft


Seit längerem sortiert man ja die handgeschriebene Post aus dem täglichen Stapel aus, um sie für die besseren Tageszeiten aufzuheben, die der Bemühung gewidmet sind, das Lesen nicht zu verlernen. Briefe, die diesen Namen noch verdie­nen, sind seltener geworden; da geht allmählich etwas unter, ohne daß man in diesem Fall mit Sicherheit sagen könnte, daß etwas Neues entsteht. Es überwiegt Weg­werf-Post oder Postwurf-Müll, hochglanzkaschierter Dreck, der den Papier­korb füllt. Rechnungen, Mahnungen und Kontoauszüge sind, wie die Drohbriefe des Amts für öffentliche Ordnung wg. Parkvergehens, schon von außen zu identifi­zie­ren und landen erst einmal in der Zwischenablage, die im Hirn und auf dem Schreib­tisch für sie eingerichtet ist. Vormittags-Routine. Grau beginnt der Tag, der mit hängenden Schultern vorm Fenster steht und selbst nicht weiß, ob er noch dem Winter oder schon einer erfreulicheren Jahreszeit angehört.

Dann gibt man sich einen Ruck und befaßt sich mit dem Rest der Post, hof­fend, er könnte Überraschungen bergen. Die UNESCO lädt zu einer Konferenz über die Informationsgesellschaft, ethische Fragen des Informations-Zeitalters, Re­gu­lierung und Selbstregulierung, drei Arbeitsgruppen, bitte notieren Sie den Termin. Eine Universität bedankt sich für ein Manuskript und bittet um die Disket­te. Ein Zentrum für Filmforschung mahnt, das Limit von 3000 Zeichen pro Beitrag un­be­dingt einzuhalten, Zusendung über E-Mail oder als Diskette, aber: vorher auf Vi­ren überprüfen! Beste Grüße, frohes Schaffen. Eine Filmgesellschaft teilt mit, daß sie einen Film produziert hat, „Der Computer und sein Mensch“. Rufen Sie bitte an, wenn Sie Fragen haben oder noch Fotos brauchen. Eine „Initiative Informations­gesellschaft Medien Demokratie“ lädt ein zu einer Veranstaltung mit dem Thema „Informationsgesellschaft - Was ist das?“

Ja, was ist das bloß, diese Informationsgesellschaft? Was haben wir uns da auf­gehalst? Einen Haufen Post jedenfalls. Die Absender sind länger geworden, weil sie uns außer der Postadresse noch die Tatsache mitzuteilen haben, daß sie Ange­stel­lte elektronischer Fabriken und digitaler Netzwerke geworden sind. Gewiß: Noch immer gibt es Straßen, die Straßennamen und Hausnummern haben; Briefträger bahnen sich, wie vor undenklichen Zeiten, zwischen falsch parkenden Autos, Gartenzäunen und Hundegebell ihren mühsamen Weg. Noch immer gibt es die Ver­gangenheit. Das Präteritum ist noch intakt - jene Zeitform, die laut Duden „das Ge­schehen als vergangen charakterisiert, als abgeschlossen und ohne Bezug zur Gegenwart“.  Dank der Grundversorgung, die uns die gelbe Post garantiert, können wir ohne Bezug zur Gegenwart noch immer Botschaften von guten Freunden und vom Finanzamt empfangen.

Doch das Telefon und der Fax-Anschluß sind schon so etwas wie vollende­te Gegenwart. Wir haben sie noch, behandeln sie aber wie alten Hausrat, der demnächst auf dem Sperrmüll landen wird, gleich neben den Computern vom vergangenen Jahr. Die Müllkippe reguliert und dereguliert ihre Dienstzeiten nach Bedarf, ist jedoch auch nachts über E-Mail und über das World Wide Web zu errei­chen, Adresse: http:/www./our world.compuserve.müll/de.

Die Müllkippe reguliert Vergan­genheit, Gegenwart und Zukunft - und dere­guliert zugleich den bisher einigermaßen gesicherten Gebrauch dieser Zeitformen, zusammen mit den ethischen Fragen, die sich ergeben, wenn die Zeiten durch­ein­andergeraten. Die Viren reguliert sie nicht - geschweige, daß sie sie entsorgen könn­te. Die Viren bleiben uns - eine vage Erinnerung an die Zeit, in der es noch Druck­fehler in den Büchern und falsche Kommata in den handgeschriebenen Brie­fen gab.

Klaus Kreimeier

1997