Glasfasern 50


Katakomben

 

 "Man zeigte im alten Griechenland Stellen, an denen es in die Unterwelt hinabging”, notiert Walter Benjamin im “Passagen-Werk”. Auch unser waches Dasein sei ein Land, “in dem es an verborgenen Stellen in die Unterwelt hinabgeht, voll unscheinbarer Örter, wo die Träume münden.” Wo die Träume der Stasi mündeten, ist jetzt aus Lageplänen zu ersehen, die in der Gauck-Behörde aufgefunden wurden: Mit dem  Mau­­­­erbau wurden auch unter der Erde Berlins etwa noch verbliebene Schlupflöcher zugestopft. Überliefert ist die Geschichte eines Kellners aus dem Hotel Adlon, der sich, einen unentdeckten Tunnel nutzend, West-Zigaretten verschafft haben soll.

Orts­erkundungen in Deutschland, in Spatentiefe und noch etwas tiefer:  Bunker, Keller, Katakomben - und ihre Ruinen. Die Zeit-Schichten, die sich in unserer Erde ablagern. Welche Träume haben die Deutschen unter die Erde getrieben? Was hat un­ser waches Dasein, unsere Gegenwart, unsere Politik mit dem unterirdischen Deutsch­­land zu tun? Trifft es zu, daß, wie Alexander Kluge sagt, die Toten gar nicht tot sind, und ist dies der Grund dafür, daß die Lebenden in diesem Land so große Schwie­rigkeiten mit dem Leben haben? Daß die Barbarossahöhle im Kyffhäuser, in den Jahren einer schweißtreibenden und nur schwer gelingenden Wiedervereinigung, wieder neuen Zulauf findet: die Hoffnung der Deutschen, schlummernd tief unter der Erde?

Private und öffentliche Burgen mit ihren Verliesen - nur ein paar Stufen, und man ist in der Unterwelt. Der "ausgebaute Kellerraum" in den Einfamilienhäusern, nebst "Hausbar", Barhockern, Spiegeln hinter der "Theke" und sanfter Lichtorgel: In den 60er Jahren kam die Mode auf, nur zwei Jahrzehnte nach den Bombennächten. Fast gleichzeitig oder wenig später: die atomsichere Bunkeranlage unter der Villa mit “Überlebenszubehör”. Aber die unterirdischen Bereiche des Nürnberger Reichsparteitagsgeländes sind heute eine städtisch geduldete Müllkippe; aus der Baugrube der NS-Zeit wurde ein unterirdisches Gewässer, "Silbersee" genannt.

 Mit der Nachkriegs-Städteplanung, den Tiefgaragen und B-Ebenen, entstanden neue Angst-Zonen, während die alten noch immer terra incognita sind. Der Bunker unter dem Wilhelmsplatz in Berlin, ehemals Keller des Hotels Kaiserhof, später Goebbels' Kommandozentrale während der Luftangriffe auf die Hauptstadt: Was gibt es dort heute zu sehen? Gibt es überhaupt etwas zu sehen? Oder das Reichstagsgebäude: Auch hier muß es doch einen Keller geben. Existiert noch der unterirdische Gang, der von Görings Palais direkt in den Plenarsaal führte und durch den nach der These des kommunistischen Braunbuchs am 28. Februar 1933 die Brandstifter liefen? Ganz in der Nähe: der Bunker unter der Reichskanzlei, eine Stätte sinistrer Mythen, hermetisch abgesperrt aus Angst vor Neonazis.

Die unterirdische Munitions­fabrik Steyerberg/Liebenau in Niedersachsen, heute ein "Zwischenlager", ehemals ein Massengrab für ausländische Arbeitskräfte; schwer zugänglich, voller Geschichten. Was wird aus dem atombombensicheren Regierungsbunker in Dernau an der Ahr, wenn die Regierung ihre oberen Etagen in Berlin beziehen wird?  Über die Katakomben von Paris, schreibt Benjamin, liefen in Zeiten öffentlicher Erregung sehr schnell unheimliche Gerüchte um. “Am Tage nach der Flucht Lud­wigs XVI. verbreitete die Revolutionsregierung Plakate, in denen sie genaueste Durchsuchung dieser Gänge anordnete. Und ein paar Jahre später ging unversehens das Gerücht durch die Massen, einige Stadtviertel seien dem Einbruch nahe."

 

         Klaus Kreimeier

         1997