Glasfasern 43


Leben nach OJ

 

„Gibt es ein Leben nach OJ?“ fragte der Online-Dienst CNN Interactive und beantwortete sie gleich selbst mit der Einrichtung seines Simpson Forums, in dem seit Monaten etliche tausend Amerikaner über die aftershocks des Jahrhundertprozesses diskutieren.

Es hätte ganz anders kommen können. Nach dem Simpson-Frei­spruch, nach dem Ende der täglichen Live-Berichterstattung aus dem Gerichtssaal, nach den Wortgemetzeln und Meinungsschlachten zwischen kriminologischen, juristi­schen und politischen Fraktionen, zwischen Weltanschauungslagern und Wahrheits-Armeen unterschiedlichster Provenienz, zwischen Sektierern, Bußpredigern und Rassenfanatikern der einen oder der anderen Couleur hätte ei­­ne ame­rikanische Nacht ins Bewußtsein der Millionen stürzen können: Black-out for ever, Ende des Verfahrens und Ende der Geschichte - was lohnt das Leben noch, nun, da die Blut­hoch­zeit zwischen Sex & Crime, Justiz und Seelenmassage, den Massen und ihren Medien zum Abschluß gefunden hat?

Es ist wie nach dem Ende eines nervenzerreißenden Films: benommen wankt der Zuschauer von dannen. Seine Schwierigkeit, die innere Balance wiederzufinden, ist ein Symptom dafür, daß die jähe Entspannung einen Abgrund in ihm aufgerissen hat und ihn nun in eine spannungslose, emotionsarme, irgendwie leere Welt entläßt. In eine Welt „nach dem Film“, die zu real ist, um ihm bei der Verarbeitung der Traumata, die ihm Fiktionen zugefügt haben, behilflich zu sein. Filmschlüsse lügen, weil das Leben ja weitergeht - ein Umstand, dem erst die endlosen Bil­derschleifen der Soap-Serien gerecht geworden sind, verheißen sie doch von Fol­ge zu Folge jene todsichere Fortsetzung der Banalität, die jeder von uns aus sei­nem eigenen Alltag kennt - und die, im Licht der Vernunft betrachtet, eine solide philosophi­sche Begründung des Selbstmords darstellt.

CNN hält es weder mit dem Selbstmord noch mit der Nacht des Bewußtseins. Es gibt ein Leben nach O.J.! Ein Nachhall - reverberations, so nennt es das Netz­werk - geht durch die Gesellschaft, ein Nachbeben gar, in dem grummelnd hör­bar wird, daß die erst aufgepeitschten, danach ausgelaugten Gefühle der Nation nach mehr verlangen, daß die allgemeine Erschöpfung nach dem Urteilsspruch dem Bedürfnis gewichen ist, den ganzen Film aus Wahn und Rausch, aus Medienmagie und Medienplunder noch einmal nachzuleben und in den abertausend Facetten eines endlosen Online-talks lustvoll zu recyceln. 

CNN-Interactive sieht sich als Agentur der Demokratie und will, erklärterma­ßen, eine globale Speaker’s Corner sein. In diesem Forum soll jeder alles sagen dürfen: über Rassenbeziehungen, alltägliche Gewalt und Polizeiwillkür. Doch jenseits des Politischen zielt dieses Network auf Eschatologie. Während alles auf dieser Welt - sei es durch plötzlichen Tod oder langsamen Verschleiß, sei es durch einen Richtspruch, durch Gottes Hand oder eine Hand­lung der Behörden - zu seinem Ende findet, bedient das Internet die Hoffnungen auf ein ewiges Leben. Unsichtbar, doch weltweit existent behauptet es eine Hyper-Realität jenseits der langweiligen Em­pirie. Daß kein Anfang und kein Ende sei, gehört zu den Geheimnissen und erklärt die Faszination jener neuen Mythen, die mit der „Vernetzung“ aufgekommen sind. Life after OJ? Are you kidding? Come live it up in the OJ Simpson Forum!


Klaus Kreimeier

1997