Glasfasern 37


Vom (Nicht-)Wissen

 
              „Wir wissen kaum etwas über den Judenmord“ - so wurde jüngst ein Politologe zitiert. Tatsache ist wohl, daß mit dem Berg an Wissen, der von den Historikern in Jahrzehnten zusammengetragen wurde, ein Bewußtsein der Ohnmacht, der moralischen und intellektuellen Inkompetenz gewachsen ist. Das unheimliche Gefühl, auch nach einem halben Jahrhundert „kaum etwas“ zu wissen, beschleicht nur den, der sich weigert, den jeweiligen Erkenntnisstand über diesen Teil der Geschich­te als „historisches Wissen“ dingfest zu machen (und ad acta zu legen).  Forschungs­berichte, Bücher, Ausstellungen, Symposien, Fernsehserien und öffentliche Diskussionen vermitteln bestenfalls die Gewißheit, daß ein Ende des Forschens we­der abzusehen noch zu wünschen sei -  je hartnäckiger manche politische Wort­füh­rer auf Schluß der Debatte drängen und der eine oder andere Wissenschaftler für sich beansprucht, das letzte Wort gesprochen zu haben.

              Wissen und Nicht-Wissen sind keine festen Kategorien, sondern Indikatoren von Verschiebungen im Bewußtseinshaushalt des Gemeinwesens. Etwas nicht wis­sen zu wollen, was jedermann wissen könnte, hat in diesem Land Tradition. Was eine Min­derheit Interessierter weiß, kann solange nicht vergesellschaftet werden, wie das Interesse der Mehrheit ausgeblendet ist oder, wie es in den fünfziger Jahren geschah, aus politischem Kalkül daran gehindert wird, sich zu artikulieren.

              Die große Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung über den Anteil der deutschen Wehrmacht an der Judenvernichtung erweiterte, auf Grund akribischer Recherchen und neuen Quellenmaterials, unseren Erkenntnisstand und unser Wissen im Detail - aber ihr entscheidendes Verdienst bestand darin, längst vorhandenes Wissen endlich „massenwirksam“ in Umlauf gebracht, also ein Arkanum vergesellschaftet zu haben.

Die Mordtaten deutscher Soldaten, spätestens ab August 1941, im russischen Podolien, in Weißrußland, auf dem Balkan und in Lettland gehören seit Jahrzehnten nicht nur zum gesicherten Erkenntnisstand der Forscher - sie wurden auch seit den sechziger Jahren in Büchern mit teilweise hohen Auflagen publiziert. Daß die Massaker der Wehrmacht an Juden, Kriegsgefangenen und Zivilisten keine Einzelfälle im Rahmen einer im übrigen „normalen“ Kriegsführung waren, sondern Teil der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie, war zum Beispiel schon den  Büchern des britischen Autors Gerald Reitlinger zu entnehmen. Seine zu Beginn der sechziger Jahre auf deutsch erschienenen Arbeiten über die Ausrottung der Juden Europas („Die Endlösung“) und Hitlers Gewaltpolitik in Rußland („Ein Haus auf Sand gebaut“) wurden von ihren Verlegern zu Standardwerken erklärt, ohne daß sie den Wissensstandard in diesem Land wesentlich beeinflußt hätten. In diesen Kontext gehört auch, daß Raul Hilbergs bahnbrechende Untersuchung über den Holocaust („Die Vernichtung der europäischen Juden“) schon 1961 in Amerika erschien, auf deutsch jedoch erst 1982 im kleinen Verlag Olle und Wolter.

Nicht einmal fünfzehn Jahre benötigten die Deutschen nach der Niederlage von 1918, um ihre erste Demokratie zu zerstören;  ganze zwölf Jahre brauchten die Nationalsozialisten, um ihre Verbrechen zu begehen. Für den mühsamen Prozeß des Innewerdens, der Klärung und Selbstklärung muß eine beschädigte Nation offenbar weitaus mehr Zeit aufwenden. Der Zugang zu den Archiven und die Akkumulation von Daten allein bewahren das erarbeitete Wissen nicht vor seinem Verfall, das heißt: davor, nicht zur Kenntnis genommen zu werden. Das Bewußtsein, „kaum etwas zu wissen“, disqualifiziert daher nicht die Forschung, sondern fragt die Gesellschaft, wieviel Wissen sie zu ertragen bereit ist.

Klaus Kreimeier

 1996