Glasfasern
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Vom (Nicht-)Wissen
„Wir wissen kaum etwas über den
Judenmord“ - so wurde jüngst ein Politologe zitiert. Tatsache ist
wohl, daß mit
dem Berg an Wissen, der von den Historikern in Jahrzehnten
zusammengetragen
wurde, ein Bewußtsein der Ohnmacht, der moralischen und
intellektuellen
Inkompetenz gewachsen ist. Das unheimliche Gefühl, auch nach einem
halben
Jahrhundert „kaum etwas“ zu wissen, beschleicht nur den, der sich
weigert, den
jeweiligen Erkenntnisstand über diesen
Teil der Geschichte als „historisches Wissen“ dingfest zu machen
(und ad acta
zu legen). Forschungsberichte,
Bücher,
Ausstellungen, Symposien, Fernsehserien und öffentliche
Diskussionen vermitteln
bestenfalls die Gewißheit, daß ein Ende des Forschens
weder abzusehen noch zu
wünschen sei - je hartnäckiger
manche
politische Wortführer auf Schluß der Debatte
drängen und der eine oder andere
Wissenschaftler für sich beansprucht, das letzte Wort gesprochen
zu haben.
Wissen und Nicht-Wissen sind keine festen Kategorien, sondern Indikatoren von Verschiebungen im Bewußtseinshaushalt des Gemeinwesens. Etwas nicht wissen zu wollen, was jedermann wissen könnte, hat in diesem Land Tradition. Was eine Minderheit Interessierter weiß, kann solange nicht vergesellschaftet werden, wie das Interesse der Mehrheit ausgeblendet ist oder, wie es in den fünfziger Jahren geschah, aus politischem Kalkül daran gehindert wird, sich zu artikulieren.
Die große Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung über den Anteil der deutschen Wehrmacht an der Judenvernichtung erweiterte, auf Grund akribischer Recherchen und neuen Quellenmaterials, unseren Erkenntnisstand und unser Wissen im Detail - aber ihr entscheidendes Verdienst bestand darin, längst vorhandenes Wissen endlich „massenwirksam“ in Umlauf gebracht, also ein Arkanum vergesellschaftet zu haben.
Die Mordtaten deutscher Soldaten, spätestens ab August 1941, im russischen Podolien, in Weißrußland, auf dem Balkan und in Lettland gehören seit Jahrzehnten nicht nur zum gesicherten Erkenntnisstand der Forscher - sie wurden auch seit den sechziger Jahren in Büchern mit teilweise hohen Auflagen publiziert. Daß die Massaker der Wehrmacht an Juden, Kriegsgefangenen und Zivilisten keine Einzelfälle im Rahmen einer im übrigen „normalen“ Kriegsführung waren, sondern Teil der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie, war zum Beispiel schon den Büchern des britischen Autors Gerald Reitlinger zu entnehmen. Seine zu Beginn der sechziger Jahre auf deutsch erschienenen Arbeiten über die Ausrottung der Juden Europas („Die Endlösung“) und Hitlers Gewaltpolitik in Rußland („Ein Haus auf Sand gebaut“) wurden von ihren Verlegern zu Standardwerken erklärt, ohne daß sie den Wissensstandard in diesem Land wesentlich beeinflußt hätten. In diesen Kontext gehört auch, daß Raul Hilbergs bahnbrechende Untersuchung über den Holocaust („Die Vernichtung der europäischen Juden“) schon 1961 in Amerika erschien, auf deutsch jedoch erst 1982 im kleinen Verlag Olle und Wolter.
Nicht
einmal fünfzehn Jahre benötigten die Deutschen nach
der Niederlage von 1918, um ihre erste Demokratie zu zerstören; ganze zwölf Jahre brauchten die
Nationalsozialisten, um ihre Verbrechen zu begehen. Für den
mühsamen Prozeß des
Innewerdens, der Klärung und Selbstklärung muß eine
beschädigte Nation offenbar
weitaus mehr Zeit aufwenden. Der Zugang zu den Archiven und die
Akkumulation
von Daten allein bewahren das erarbeitete Wissen nicht vor seinem
Verfall, das
heißt: davor, nicht zur Kenntnis genommen zu werden. Das
Bewußtsein, „kaum etwas
zu wissen“, disqualifiziert daher nicht die Forschung, sondern fragt
die
Gesellschaft, wieviel Wissen sie zu ertragen bereit ist.
Klaus
Kreimeier
1996