Glasfasern 35 

Dunkles Afrika

 

              Die großzügig in Betracht gezogene Selbstaufopferung des weißen Mannes für das Glück der Schwarzen ist tragisch gescheitert, bevor der bemerkenswerte Plan, von Staatssekretären und Generalstäblern penibel ausgearbeitet, in Kraft treten konnte. Voraussehbar war, daß die alle Probleme beseitigende Maximallösung keinen Konsens finden würde. Der Revision der Grenzen von 1884 und der Neuaufteilung des Kontinents widersprachen die Stammesfürsten. Ein großer Ge­danke zerbrach am kleinmütigen Egoismus illiterater Potentaten.

              Unverzagt dennoch und überlebensgroß eilten die weißen Männer von Konferenz zu Konferenz, dem Morden da unten Einhalt zu gebieten. Auf das heftigste einig in den zentralen Fragen, debattierten sie ohne die geringsten Anzeichen einer an sich doch verständlichen Ermüdung das entscheidende Problem: Was ist zu tun, auf daß in der Welt kein Zweifel bestehe, daß etwas getan wird? Da sie der Indikativ irritierte, erteilten sie ihren Referenten Anweisung, die Konferenzvorlagen in den Konjunktiv umzuschreiben. Was könnte getan werden, wenn die Bedingungen X und Y erfüllt wären? Unter welchen Umständen müßte sogar etwas getan werden, wenn nur die Voraussetzungen A bzw. B nicht gegeben wären?

Die Referenten der weißen Männer, geübt in diesen Dingen, erfanden wei­­te­re Komplikationen. Den Urwald zum Beispiel. Die Undurchdringlichkeit der Schling­pflanzen. Die Grenzformalitäten im Fall einreisender Luftkampfgeschwader.

Der gute Wille türmte Berge von Hindernissen auf. Menschenliebe brauste orkanartig über die papierschäumenden Konferenztische. Die humanitäre Frage stand wuchtig im Raum und füllte ihn immer mehr aus, bis die Konferenzteilnehmer nach Nebenausgängen suchen mußten. Sie stand auch den bleichen Helfern im Weg, die erschöpft aus den Ländern der Schwarzen kamen und, kaum heimgekehrt, ohne Nachsicht  erneut zum Aufbruch drängten.

              Die weißen Männer sagten: Wir brechen auf, sobald ihr uns Satellitenfotos zeigen könnt. Wir sind kurzsichtig. Die Nachtsichtgeräte, mit denen wir unsere eigenen Grenzen schützen, genügen im dunklen Erdteil nicht, um Erkenntnisse über die Sachlage zu gewinnen. Die Referenten arbeiteten unterdessen an einem bilateralen Vertrag mit der verrinnenden Zeit; sie feilten am Wortlaut.

              Von den Zentren des Todes drangen grelle Meldungen der Reporter in die Konferenzsäle. Millionen sterben wie die Fliegen. Tüchtige Reporter. Sie haben ei­ne gute Pressekonferenz verdient. Die Referenten erarbeiteten die Vorlagen. Es sei unumstößlich: Die weißen Männer stellen sich dem Auftrag. Freilich sei noch die Ge­nehmigung des in Nizza weilenden Kaisers der Schwarzen einzu­holen, der sich be­harrlich der Bombardierung seines Landes mit Hilfsgütern aus der Luft widersetze. Zudem seien die Sterbenden in Stämme aufzuteilen; das fragliche Gebiet sei korrekt zu kartographieren, um Truppen und Material durch erkennbar markierte Korridore beizeiten ins komplizierte Landesinnere zu schaffen. Beizeiten? Die weißen Männer korrigierten die Vorlage: Unverzüglichkeit  sei das Gebot der Stun­de. Die Reporter stenografierten mit, atemlos.

              Händeringend nun betrachten die weißen Männer die veränderte Sachlage. Durch die Wälder irren versprengte Helfer auf der Suche nach Hilfsbedürftigen. Auf­klärungsflugzeuge versuchen, sich Übersicht zu verschaffen. Unfaßlicherweise haben sich die Sterbenden zu Hunderttausenden selbst auf den Weg gemacht - eine unaufhaltsame Menschenflut, halsstarrig, undankbar, ohne Achtung für die humanitären Belange der Hochzivilisation, die schließlich ihretwegen zu jedem Opfer nicht nur bereit, sondern fest entschlossen war. Ewig dunkles, rätselhaftes Afrika...

  

         Klaus Kreimeier
 
         1996