GLASFASERN   25

Wirklichkeitswut

 
            Ein Luxusliner kreuzt im Nordatlantik exakt dort, wo vor vierund­acht­zig Jahren die „Titanic“ mit fünfzehnhundert Menschen versank, wäh­rend ein Bergungs­unternehmen mit al­lem verfügbaren Rüstzeug der Hoch­­­­­­­­­­­te­ch­­no­lo­gie am Meeresgrund die mythischen Trümmer sondiert und Unterwasserka­me­ras über Großbildschirme die zahlende Schickeria an Bord des Nostalgiedamp­fers mit den gewünschten Gruseleffekten versorgen. Einige Wochen zu­­vor: Tote im Himalaya; Berg­führer und Abenteuertouristen des Jet-set, teilweise ohne Klet­ter­er­fah­rung, er­frieren im Blizzardsturm unter dem Gipfel des Mount Eve­­rest oder ster­ben am Hirn­­ödem. Die Stories der Überlebenden füttern, no­­bi­litiert zu Prunkstücken eines li­te­rarischen Wettbewerbs, die Spalten von Newsweek.

            Die Abbilder taugen ersichtlich nichts mehr, je perfekter sie werden. Kino, Fernsehen, digitale Fotografie - Katastrophenfilme aus den virtuellen Studios des Si­licon Valley,  Schlachtfeld-Reportagen aus der Live-Kamera, Erd­beben aus der He­likopter-Perspektive, ha­varierte Schiffe auf sämtlichen ­Meeren der Welt, im Schlamm versinkende Dörfer in den Al­pen und in Bangladesh, exlodierende Marktplätze in Bosnien:  je brillanter die Bilder, de­­sto stumpfer der Genuß, den sie er­zeugen. Auch die Meute, die zu den „Titanic“-Re­sten drängt, will ja am Ende nicht nur Bilder, sondern mindestens ein Stück hartes Material aus der nassen Tiefe, ein Souvenir mit eingraviertem Echtheitssiegel nach Hause tragen.  

Seh-Maschinen, die uns unablässig bereden, live dabei zu sein, produzieren offenbar eine fatale Wut zum „wirklichen“ Leben, eine Sucht, die danach drängt, am eigenen Lei­be zu exekutieren, was die Mediensuggestionen an „Entgrenzun­gen“ verheißen.  Ein post­moderner élan vital, die Möglichkeit der Selbsttötung ein­geschlossen, breitet sich aus und ist schon als Massen­tourismus kommerzialisiert, bevor ihn die Reiseveranstalter in ihre Ka­taloge aufgenommen haben.  75 000 Mark kostete bisher der Tod am Mount Eve­rest; eine deutsche Gruppe, die sich ge­rade im Basislager versam­melt, zahlt schon etwas weniger.

Vier Wochen Vorbereitungszeit benötigten die Filmarchitekten, damit Fritz Lang 1926 in Metropolis eine Explosion drehen konnte, die nie zuvor im Kino zu sehen war. Leni Riefenstahls Abenteuer im ewigen Eis des Montblanc oder in Grön­land, ein paar Jahre später, wurden von Fanck schon quasi live gedreht, mit Ernst Udet als Kunst- und Rettungsflieger. In den dreißiger Jahren vertrieb der Ufa-Schmal­film­verleih die Dokumentaraufnahmen vom Untergang einer deutschen Nanga Parbat-Expedition bereits als frühes Home-Video an alle Haushalte, die sich mit dem Volks­emp­fänger nicht begnügen wollten.

Auf ihrem langen Weg zur Direktübertragung haben die Katastrophenbilder ihren Kurswert eingebüßt; die Liebe zum kalten Grauen, mit der sie spekulieren,  wur­de vom En­nui eingeholt, den die Wiederkehr des Immergleichen unvermeidlich hervorruft. Jetzt schießt die Koketterie mit dem Entsetzen aus der Geisterbahn der Live-Aufnahmen hinaus ins wirkliche Leben  - sei es als luxuriöse Leichenfledderei an mythischen Wracks, sei es als Experiment mit dem eigenen Tod.

 

Klaus Kreimeier

1996