GLASFASERN 17


Baustelle

 Wo selbst das östlichste Ostberlin aufhört, weil schließlich alles seine Grenzen hat, beginnt eine Landschaft, die aus Getreidefeldern, Alleen mit Apfelbäumen und hypermodernen Tankstellen zusammengesetzt ist. Die Tankstellen sehen so aus, als habe man sie probeweise hingestellt, wie nicht ganz fertige Kulissen, die man schnell wieder abräumen kann, falls sich der Spielplan doch noch ändern sollte. Das Land wartet und lauscht auf das Ächzen und Rumoren der nahen Stadt, die zur Hauptstadt werden soll.

 Wer weiterfährt, gelangt nach Bernau, einer Baustelle, die sich um eine mächtige spätgotische Backsteinbasilika herum gebildet hat. In der Stille des Sommerabends ist schwer zu entscheiden, ob die Bauleute schon vor Jahren abgezogen sind oder aber eine neue Invasion vorbereiten, die keinen Stein auf dem anderen lassen wird. St. Marien freilich ruht in sich selbst, düster und geistesabwesend - ein Schiff aus einer anderen Epoche, das seine Ladung längst gelöscht und seine Segel eingezogen hat. In einem halbverfallenen Winkel erinnert ein Emailleschild aus dem 19. Jahrhundert, mit schönen geschwungenen Lettern, an die „Küsterei“.  Unter alten Bäumen Kopfsteinpflaster, das sich im märkischen Sand verliert, Bauzäune, in Staub und Kalk gehülltes Gebüsch. Schräg gegenüber eine funkelnagelneue Niederlassung der Deutschen Bank.

Man kann, zwischen Zementsäcken, durch ein wuchtiges spitzbogiges Stadttor hindurchschreiten und dabei darüber nachdenken, wie Bernau wohl im Mittelalter, in der Nazizeit und in den frühen Jahren der DDR ausgesehen haben könnte. Wie reagiert die Provinz auf die Zumutungen der Geschichte? Die Umbaumaßnahmen nehmen mehr Zeit in Anspruch als in den Zentren. Aber eine Baustelle ist Bernau, in größeren oder kleineren Zeitabständen, immer wieder gewesen. Baustellen sind immer beides: Projekte, auch Projektile in die Zukunft, die, wie derzeit in Berlin, ein ganzes Stadtbild zerfetzen - und unzulängliche Versuche, Spuren zu verwischen.

Eine Frage drängt sich auf: Ist Bernau eigentlich bewohnt? Gibt es hier Menschen, die sich Bernauer nennen und daran gewöhnt sind, der Dinge zu harren, die da kommen werden?  Eine spätgotische Basilika, selbst eine Filiale der Deutschen Bank könnte notfalls ohne Laufkundschaft existieren. Zwei junge Touristen kommen des Wegs, blicken sich um und fragen den Fremden nach dem Weg zum Bahnhof. An einer Ampel startet kreischend und quietschend ein BMW und schreckt die Stare am Kirchturm auf. In einem offenen Parterrefenster liegt ein gelblicher Spitz auf seinem Kissen und knurrt schon von weitem den einsamen Passanten an.

 
Vergangenheit und Gegenwart bilden hier keine geologischen Schichten, sie sind eher wie in einem Kramladen zu besichtigen. Ein Steinwurf von St. Marien entfernt steht eine Häuserzeile wie aus Plastik, Kunststoff-Plattenbau, zweigeschossig, in Ockertönen angepinselt - schwer vorstellbar, daß die Erbauer daran gedacht haben, es könnten hier Menschen freiwillig seßhaft werden. Um die Ecke öffnet sich der weiträumige Marktplatz, preußisch-viereckig ausgerichtet, mit dem Rest eines Bürgerhauses, das im Vormärz errichtet sein könnte, Fassade Biedermeier. Der Abend senkt sich auf die grauen Bäume; in einer Kneipe brennt nun Licht, drei Leute stehen an der Theke und reden über Autos, Fußball und den Ärger im Betrieb; die große Terrine mit Speck und grünen Bohnen kostet drei Mark. Die Uhr unter dem Glassturz geht genau eine Stunde nach.

Zurück nach Berlin, vorbei an einem einsamen Schinkelbau. Katzen huschen über  Kopfsteinbuckel.  An der Stadtausfahrt, wie herausgeschnitten aus der Nacht, eine renovierte und zum Hotel umgebaute Prunkvilla, hell angestrahlt, vom Licht modelliert wie das Spielcasino von Monte Carlo.

 
Klaus Kreimeier

1996

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