GLASFASERN 14

   
Formatiert

  Als die Protestbewegung der späten sechziger Jahre alternativ wurde, begann die Blütezeit der Stadtteil-, Straßen-, Nachbarschafts- und Hinterhoffeste; die graue Republik färbte sich bunt, die direkte Kommunikation von Mensch zu Mensch wurde wiedererfunden, überhaupt „menschelte“ es weit und breit, und seither gibt es auch in der Politik so schauderhafte Vokabeln wie „Streicheleinheiten“ und „Schmusekurs“.  Bald zogen die Bessergestellten unter den Alternativen aufs Land oder an die Stadtränder - entschlossen, nun auch die letzten noch verbliebenen Dörfer, die Eigenheimsiedlungen  und die anliegenden „Naherholungsgebiete“ in einen Kiez der alternativen Gesinnungsart zu verwandeln.

         Es brach die Epoche der Garten-, Kinderspielplatz-, Stichstraßen- und sonstigen     Sommer-, Bier- und Grillfeste aus, erkennbar an den weißen, baldachinartigen Spaß-Zelten (wie sollte man sie anders nennen?), die sich seit einigen Jahren, bei entsprechend guter Wetterlage, als pseudo-orientalische Behausung neudeutschen Gemeinschaftssinns bewähren. Es ist eine Lüge, daß die Bürger dieses Landes des Frohsinns unkundige, an emotionaler Auszehrung leidende, notorisch  kommunikationsfeindliche Geschöpfe seien. Gefeiert und kommuniziert wird, bis die Lautsprecher der gemieteten Tonanlage bersten. 

        Denn technisch ist die trotz Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit nachgerade überschießende gute Laune in diesem Land auf das beste gerüstet. Die Blaupausen für Ausstattung, Programm, Akustik, Beleuchtung und Kostüme liefern die Fernseh-Shows mit ihrer Disco-Ästhetik. Kaum eine Straßenfestivität oder eine Grill-Orgie im Park, die nicht multimedial „gestylt“, von den Spaß-Formaten sämtlicher TV-Kanäle überformt wäre: von den Techno-Rhythmen über die Schallverstärker, Ansagerituale und Play back-Gesangsnummern bis zum „Outfit“ der Beteiligten, die buchstäblich bis aufs Haar den Kandidaten in Jürgen von der Lippes „Geld oder Liebe“ gleichen. Was spontan scheint - und subjektiver Spontaneität keineswegs entbehrt - ist kulturell codiert, folgt ästhetischer Gesetzmäßigkeit und sonnt sich, durchaus selbstbewußt, im Glanz jener zweiten Wirklichkeit, die uns vom Bildschirm aus dirigiert.

Die erste Realität als Kopie der zweiten, die wiederum ohne die erste nicht zu denken wäre: Vermutlich liegt hier das Neuartige, Essentielle dessen, was als „TV-culture“ geliebt, gehaßt, geringschätzig abgetan, in der Regel jedoch gar nicht wahrgenommen wird. Zwar zeugten schon Kinostars ihre Imitationen, und in allen früheren Epochen hat der Alltag Rituale ausgeprägt, die ihre Vorbilder suchten - sei es in der Religion, im Mythos oder im stilistischen Repertoire der oberen Klassen. Aber das Fernsehen ist weder eine religiöse oder mythische Institution, noch wird es (entgegen landläufiger Ansicht)  von einer gesellschaftlichen Elite manipuliert. Es verfügt über  keine eigene Ästhetik, noch spricht es eine nur ihm eigentümliche Sprache. Es absorbiert vielmehr alle im Gemeinwesen virulenten Sprachen und Lebenskonventionen, verrührt sie, synthetisiert sie und setzt sie zu Mustern zusammen, die wiederum als Gestaltungsvorlagen auf den gesellschaftlichen Alltag zurückwirken.

So kommt eins zum andern: unser Verlangen, wir selbst zu sein - und die Schwierigkeit, dem Abbild unseres Selbst zu entgehen, das „die Medien“ entwerfen. 

 
Klaus Kreimeier                                            

1996

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