Glasfasern 99

AV-Taylorismus

Ein renommierter Medienberater pries kürzlich in illustrer Runde die „Tay­lo­ri­sie­rung der audiovisuellen Produktion“. Widerspruch wurde nicht hörbar. Da den Anwe­­­­senden die Verbesserung der Chancen auf dem audiovisuel­len Arbeitsmarkt - und mit ihr die Verbesserung der Welt überhaupt - am Herzen lag, wa­ren Zweifel nicht besonders gefragt, erst recht nicht solche, die sich auf Erfahrungen aus den barbarischen Pe­rioden des Industriezeitalters hätten berufen können. 

Erst jetzt hat die deutsche Medienwirtschaft jenes Produk­tionsniveau erreicht, auf dem 1909 die amerikanische Automobilindustrie ange­langt war. Hen­ry Ford baute da­mals 10 000 Wagen pro Jahr und kassierte für jeden noch 950 Dollar. Drei­zehn Jah­re später war seine Jahresproduktion auf 1,5 Millionen ge­­klettert - ein Auto von Ford ko­­stete jetzt nur noch knapp 300 Dollar. Das serielle Prin­zip war in die in­du­stri­elle Mas­senpro­duktion eingeführt und machte sich in den kom­menden Jahr­zehn­ten für Pro­du­zenten, Zwischenhändler und Endabnehmer überaus be­zahlt. Heute ist in der Medienproduktion, denkt man nur an die Daily und Weekly Soaps, das serielle Prinzip  längst zur Norm der Herstellung ebenso wie der Wahr­nehmun­gen und Emotionen auf der Seite der Rezipienten geworden. Die Kulturindustrie hat ihre grimmigen Propheten Horkheimer und Adorno eingeholt. Die Produzenten indessen zögern noch, den letz­ten Schritt zu tun.

Ford führte damals das Fließband ein. In der Fließbandferti­gung, die auf den Zeit- und Bewegungsstudien des amerikanischen Erfinders Frede­rick Winslow Taylor ba­siert, wurden die Werkstücke nach einem genau kalkulierten Takt von einem Arbeitsplatz zum nächsten transportiert. Das er­forderte einen organisa­­torischen Aufwand, der, in Dollars umgerechnet, bald die Ge­winnspanne redu­­zierte. Der Taylorismus war störungsanfällig und produzierte, so­zu­­sagen am laufenden Band, lauter kleine und große Katastrophen, die zum Stillstand ganzer Fertigungsstraßen füh­ren konnten.

In der audiovisuellen Medienproduktion haben Elektronik und Computertechnik die Rolle des Fließbandes übernommen. Katastrophen sind bisher ausgeblieben; sie sind, da es sich um kulturelle Folgen handelt, eher langfristiger Natur. Die neuen Tech­ni­ken erfordern jedoch eine Vielzahl neuer Fachkräfte. Bemerkenswerte Zuwachsraten im Sektor der „technisch-krea­ti­ven“ Berufe, die gut bezahlt werden, erhöhen zwangsläu­fig die Kosten. Der Arbeitsmarkt boomt, frohlocken die Standortpolitiker. Die Eigen­tümer der Produktionsmittel je­doch müssen sich plötzlich über den tendenziellen Fall der Profitrate Gedanken machen.

Für die Autofabrikanten erwies sich das Experiment, den Menschen mit der Ma­­schine zu ver­schmel­zen, am Ende als kontraproduktiv. Die Arbeiter litten zu­neh­mend un­­ter der von der Maschine oktroyierten Monotonie, die fortwäh­rend Ar­beits­­unlust, physi­sche Erschöpfung und psychische Störungen hervorrief. Der gro­ße Hen­ry Ford produ­zierte also außer seinen Autos auch ganz neue Krankhei­ten, außer den glücklichen Menschen, die in seinen Vehikeln über die Highways rasten, unglückliche Menschen, deren Leiden Charlie Chaplin in Modern Times drastisch gezeigt hat. Inzwischen haben elektronisch gesteuerte Roboter die physi­sche Arbeit in den Fabriken verdrängt. Die Arbeiter verschwinden allmählich aus der Automobilproduktion.

Gewiß wären Roboter, die z.B. hochspezialisierte EDV-Arbeiter ersetzen können, auch in der Medienwirtschaft eine denkbare Lösung. Aber das Problem in diesem Wirtschaftszweig sind letztlich nicht die teuren Arbeiter, sondern die unwägbaren Kon­sumenten. Die Taylorisierung der Kulturindustrie könnte bei den Kunden zu psychi­schen Störungen und Erschöpfungszuständen führen, die am Ende nicht nur die Indu­strie, sondern das ganze System zum Kollaps brächten.

Klaus Kreimeier

1998