GLASFASERN
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Schweiz passé
Unser Vaterland ist ja nun, mit mehr
Glück als Verstand, beinahe zu seiner alten Größe
wieder aufgequollen. Um so
mehr Sorgen muß man sich um die kleinen Anrainerstaaten machen.
Von Belgien sei
hier höflicherweise geschwiegen. Aber denken wir nur an die
Schweiz; sie ist in
Bedrängnis. Als Liebhaber der Bergwelt und Verehrer der
ältesten europäischen
Demokratie kann man dies nur mit Bedauern feststellen. Sicher, noch
immer
trifft sich die Schickeria zum Skiurlaub in St. Moritz, aber die
Schickeria im
ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert ist
auch nicht mehr das, was sie einmal war.
Zumal als
Paradies für Geldanleger ist die Schweiz nachhaltig und zurecht in
Verruf
geraten. Das Schweizer Bankwesen mit seinen berühmten anonymen
Nummernkonten
versucht ziemlich schamlos, sich selbst zu anonymisieren, seitdem
bekannt
wurde, daß seine Direktoren das ihnen treuhänderisch
übereignete Vermögen
verfolgter Juden in der Anonymisierungs-Mathematik ihrer
Bankgeheimnisse
einfach verschwinden ließen. Ihre heutigen Nachfolger blicken
blauäugig wie
Wilhelm Tell in die klare Bergluft und rechtfertigen sich doch
tatsächlich
damit, daß in jener „verworrenen Zeit“ schließlich nicht
voraussehbar war, daß
noch einmal jemand nach dem Geld fragen würde. Zynisch klappen sie
ihre leeren
Bücher vor der Weltöffentlichkeit auf - in der offenbar durch
nichts zu
trübenden Hoffnung, daß jeder ihrer Meineide als
Rütli-Schwur durchgehen werde.
Nicht
minder bestürzt, daß die Schweiz auch als Transitland immer
unbrauchbarer wird. Für den
Durchreiseverkehr hat sich das Land
umorganisiert. Die Gründe
sind, um es vorsichtig zu formulieren, dubios. So hat man, um ein
Beispiel zu
nennen, den Viehtrieb von der Alm in die Autobahnraststätten
verlegt (die
verrückterweise alle „Mövenpick“ heißen, als wäre
Helgoland gleich um die
Ecke).
Das sieht
so aus, daß der Reisende, der sich durch den Dschungel der
Nahrungsangebote
hindurchgewirtschaftet hat und endlich zahlen möchte, die Kasse
nicht erreicht,
ohne erst einmal durch ein Gatter in eine „Traveller Shop“ genannte
Einkaufshölle gepfercht zu werden, in der von ihm erwartet wird,
daß er sich
mit Spirituosen, Tabakwaren, Hobbyzeitschriften und
Plüsch-Bernhardinern
befrachtet, bevor er sich, in welcher Währung auch immer,
freikaufen und der
gastlichen Stätte den Rücken kehren darf. Ein
merkwürdiges Enge- oder gar
Angst-Syndrom hat die Schweizer veranlaßt, selbst auf kleinen
Tankstellen vorzuschreiben, durch welche Tür man hinein- und durch
welche man
hinauszugehen hat. Eine Apartheidsgesellschaft, die zwischen den
kassa-mäßig bereits
Abgefertigten und denen, die noch zahlen müssen und
möglicherweise entwischen
könnten, strenge Unterschiede macht.
Gewiß, der
Durchreisende gelangt noch von einer Grenze zur anderen, aber was
dazwischenliegt,
ist ungewiß. Die Schweiz wirkt wie die Transithalle eines
Flughafens, mit
Bergen im Hintergrund. Selbst auf dem letzten Dorf gibt es keine
Gasthöfe mehr,
nur noch „Pubs“ und „Tea-rooms“. Sie sind gähnend leer. Die
Dörfer scheinen,
zumal am Abend, ausgestorben; von irgendwo sind Kuhglocken zu
hören, aber das
hört sich an wie ein vom Fremdenverkehrsverein produziertes
Tonband. Um jede
Burgruine veranstalten sie eine Multimedia-Show, aber ohne Zuschauer.
Die
Touristen sausen vorbei, und die Einheimischen sind offenbar für
immer auf und
davon.
Klaus
Kreimeier
1996