GLASFASERN  28


Schweiz passé

 

         Unser Vaterland ist ja nun, mit mehr Glück als Verstand, beinahe zu seiner alten Größe wieder aufgequollen. Um so mehr Sorgen muß man sich um die kleinen Anrainerstaaten machen. Von Belgien sei hier höflicherweise geschwiegen. Aber denken wir nur an die Schweiz; sie ist in Bedrängnis. Als Liebhaber der Bergwelt und Verehrer der ältesten europäischen Demokratie kann man dies nur mit Bedauern feststellen. Sicher, noch immer trifft sich die Schickeria zum Skiurlaub in St. Moritz, aber die Schickeria im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert ist  auch nicht mehr das, was sie einmal war.

Zumal als Paradies für Geldanleger ist die Schweiz nachhaltig und zurecht in Verruf geraten. Das Schweizer Bankwesen mit seinen berühmten anonymen Nummernkonten versucht ziemlich schamlos, sich selbst zu anonymisieren, seitdem bekannt wurde, daß seine Direktoren das ihnen treuhänderisch übereignete Vermögen verfolgter Juden in der Anonymisierungs-Mathematik ihrer Bankgeheimnisse einfach verschwinden ließen. Ihre heutigen Nachfolger blicken blauäugig wie Wilhelm Tell in die klare Bergluft und rechtfertigen sich doch tatsächlich damit, daß in jener „verworrenen Zeit“ schließlich nicht voraussehbar war, daß noch einmal jemand nach dem Geld fragen würde. Zynisch klappen sie ihre leeren Bücher vor der Weltöffentlichkeit auf - in der offenbar durch nichts zu trübenden Hoffnung, daß jeder ihrer Meineide als Rütli-Schwur durchgehen werde.

Nicht minder bestürzt, daß die Schweiz auch als Transitland immer unbrauchbarer wird.  Für den Durchreiseverkehr  hat sich das Land umorganisiert. Die Gründe sind, um es vorsichtig zu formulieren, dubios. So hat man, um ein Bei­spiel zu nennen, den Viehtrieb von der Alm in die Autobahnraststätten verlegt (die verrückterweise alle „Mövenpick“ heißen, als wäre Helgoland gleich um die Ecke).

Das sieht so aus, daß der Reisende, der sich durch den Dschungel der Nahrungsangebote hindurchgewirtschaftet hat und endlich zahlen möchte, die Kasse nicht erreicht, ohne erst einmal durch ein Gatter in eine „Traveller Shop“ genannte Einkaufshölle gepfercht zu werden, in der von ihm erwartet wird, daß er sich mit Spirituosen, Tabakwaren, Hobbyzeitschriften und Plüsch-Bern­har­di­nern befrachtet, bevor er sich, in welcher Währung auch immer, freikaufen und der gastlichen Stätte den Rücken kehren darf. Ein merkwürdiges Enge- oder gar Angst-Syndrom hat die Schweizer veranlaßt, selbst auf kleinen Tankstellen vorzuschreiben, durch welche Tür man hinein- und durch welche man hinauszugehen hat. Eine Apartheidsgesellschaft, die zwischen den kassa-mäßig bereits Abgefertigten und denen, die noch zahlen müssen und möglicherweise entwischen könnten, strenge Unterschiede macht.

Gewiß, der Durchreisende gelangt noch von einer Grenze zur anderen, aber was dazwischenliegt, ist ungewiß. Die Schweiz wirkt wie die Transithalle eines Flughafens, mit Bergen im Hintergrund. Selbst auf dem letzten Dorf gibt es keine Gasthöfe mehr, nur noch „Pubs“ und „Tea-rooms“. Sie sind gähnend leer. Die Dörfer scheinen, zumal am Abend, ausgestorben; von irgendwo sind Kuh­glocken zu hören, aber das hört sich an wie ein vom Fremdenverkehrsverein produziertes Tonband. Um jede Burgruine veranstalten sie eine Multimedia-Show, aber ohne Zuschauer. Die Touristen sausen vorbei, und die Einheimischen sind offenbar für immer auf und davon.

 

              Klaus Kreimeier

              1996